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Freitag, 20. Juni 2008

Das 1:2, IKEA und ich

Kennt ihr diese putzigen kleinen „Liebe ist…“-Comics, in denen sich dieses goldige Pärchen seit Ewigkeiten immer wieder durchs Leben hilft, begleitet und liebt? Ich hätte einen weiteren Spruch für die Bibliotheken füllende Sammlung und die dazugehörige Geschichte, die ich erst jetzt niederzuschreiben in der Lage bin:
„Liebe ist, wenn man auf eines der wichtigsten Spiele der letzten zwei Jahre verzichtet, um ihr bei einem überstürzt geplanten IKEA-Besuch beizustehen, der nie Aussicht auf terminlich geplanten Erfolg haben konnte.“

So geschehen Donnerstag vor einer Woche, als ich mich nach einer nervenaufreibenden Projektsitzung in Windeseile zu ihren Umzugsaktivitäten begeben habe. Noch während der Sitzung kommen die ersten beiden Anrufe rein – die ich natürlich nicht mittendrin annehmen kann. Kurze Pause, Zeit für den Rückruf. Keine Reaktion. Ich wieder rein in den Redaktionsraum. Kaum sitze ich, sehe ich ihren Anruf auf meinem Display stumm aufleuchten. Wieder raus.

Sie: „Wir wollen so gegen 16 Uhr losfahren. Kannst du mitkommen?“
Ich: „Ich muss erst abwarten wie lange wir hier noch machen. Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß.“

Kurze Zeit später kommt eine SMS rein. „In einer halben Stunde wollen wir los. Kannst du nun mitkommen?“ Zum Glück sind wir so gut wie fertig und ich kann mich vom Campus verkrümeln. Die übliche Viertelstunde Fußweg schaffe ich in neun Minuten, nur um dann bei ihr in der Tür zu stehen, während sie und ihre Mutter noch am Wuseln sind.

Kurz nach vier fahren wir tatsächlich los und sind auf dem Weg nach Frankfurt. „Nur ein paar Kleinteile holen und ein Regal.“ Mehr soll es nicht werden. Das letzte Angebot daheim zu bleiben, damit ich das Spiel Kroatien vs. Deutschland sehen kann, schlage ich aus. Ich habe ihr von vornherein versprochen zu helfen und ich halte meine Versprechen. So unklug sie auch manchmal zu sein scheinen.

Circa zwanzig vor fünf sind wir da. Einmal IKEA und zurück in weniger als 90 Minuten? Für diesen Irrglauben besitze ich mittlerweile zu viel Erfahrung und kenne meine gute Hälfte zu genau. Im Geiste verabschiede ich mich schon von der ersten Halbzeit. Die obere Etage ist trotz allem schneller abgehandelt als erwartet. Matratze, Lattenrost, CD-Regal Benno und Schuhschrank Skär stehen auf dem Notizblock (ich zitiere: „nur ein paar Kleinteile“).

Während wir allerdings durch den fast komplett verwaisten Möbelschweden stolpern, werden mir zwei Dinge bewusst. Zum einen höre ich zum wirklich ersten Mal bei einem Besuch dieser Räumlichkeiten meine Schritte über den Ausstellungspfad tippeln und zum anderen sehe ich fast nur Frauen hier herumlaufen. Für einen stressfreien Einkauf beim Blau-Gelben bedarf es tatsächlich nur einer Europameisterschaft. Wer hätte das gedacht? Die paar wenigen Geschlechtsgenossen die mir über den Weg laufen haben alle den gleichen leeren Blick in ihren glasigen Augen, Marke „ich hätte mich eher trennen sollen als hierher mitzugehen… ausgerechnet heute!“

Bei den Schweden scheint man an diesem Tag allerdings ein Herz zu haben – oder eine ausgeprägte Ader für Sadismus -, schließlich laufen auf einigen Fernsehern in den Ausstellungsräumen die Vorberichterstattungen. Nur mit der Hirnkoordination zwischen Denken und Sprechen hapert es ein wenig. Wie sonst wäre diese Durchsage zu erklären: „Liebe Familien und Besucher, Happy Hour im Restaurant! Von ab jetzt essen sie gratis für EUR 1,95“ Ah ja, interessant. Dann auf zu Tisch. Noch kann man es zu Halbzeit zwei schaffen. Doch zu früh gefreut. Nach dem Restaurant folgt die Treppe hinab in die Kleinkram-Abteilungen. Sämtliche Zeitplanungen fanden spätestens an dieser Stelle ihr Ende.

Zeitsprung über die Diskussionen über den Sinn und Nutzen zwischen Alu- oder Holzjalousien hinweg zur Phase kurz vor Spielbeginn. Die anderen Männer scharren mit den Hufen wie die Pferde in ihren Startboxen. Sie wollen nur noch losjagen und so schnell wie möglich am Ziel sein – ihrem heimischen Fernseher. Mein Ziel wäre ein baldiges Verlassen des Möbelhauses, auch wenn ich nicht mehr an das Spiel glaube und mich erfolgreich und abgeklärt von meinen Träumereien verabschiedet habe. Wenn man so etwas erst einmal abschreibt, dann tut es auch nicht mehr so weh. Vor allem dann nicht, wenn ich daran denke für wen ich das alles hier tue. Was ist schon ein Spiel, wenn man dafür Zeit mit ihr verbringen darf?

Wir sind mittlerweile bei den Hochregalen zur Selbstbedienung angelangt und laden nun nach und nach Benno und Skär auf den Wagen, als es mich plötzlich noch einmal durchfährt. Die Durchsage der Mitarbeiterin verkündet das 0:1 für Kroatien. Wie von der Tarantel gestochen springe ich mit einem Mal auf der Stelle, mich dreimal um die eigene Achse drehend. Die Erinnerungen in mir schießen hoch: 1998, Frankreich, WM-Viertelfinale in Lyon. Dieses unsagbare 0:3. Ich mag nicht daran denken, habe aber dieses mulmige Gefühl im Magen und fange für einen Augenblick an zu rechnen. Wenn wir jetzt sofort losfahren, dann wären wir wann wieder vor dem Fernseher? Aber dann schiebe ich diese Gedanken bei Seite. Ich habe es ihr versprochen und ich werde ihr das jetzt nicht ruinieren. Das hier ist wichtig für sie. Für uns.

Mit dem viel zu schwer beladenen Wagen reihen wir uns in die Schlange an der Kasse ein. Ihre Mutter drückt uns Geld in die Hand mit dem Auftrag im Baumarkt nebenan den Badezimmerspiegel zu holen, in den sich mein Liebling beim letzten Mal so verschossen hat.

„Wenn ihr den jetzt schon holt, dann sind wir eher wieder daheim.“ Da hat also noch jemand das Spiel noch nicht abgeschrieben.

Draußen regnet es aus Strömen. Die dunklen Wolken, die sich bei unserer Ankunft schon türmten, haben jetzt ihre Schleusen geöffnet. Sintflutartiger Regen, Zeitdruck, alles muss schnell gehen respektive ich rennen. Das kommt mir verdächtig bekannt vor. Das Oberteil bleibt diesmal da wo es ist, der Sprint zum Baumarkt gelingt auch so. Bleibt nur noch die Frage, wo zum Teufel nun dieser eine Spiegel war. Ich suche und suche, werde aber nicht schlauer. Mein Telefon klingelt. „Hast du ihn?“ – „Nein, ich suche noch.“ Wenig später suchen wir zu zweit und finden das gute Stück tatsächlich.

Es folgt der nächste Sprintauftrag. „Nimm den Spiegel und lauf zum Wagen. Meine Mutter kann den schweren Wagen alleine kaum bewegen. Hilf ihr bitte.“ Ob es auf dem Parkplatz Geschwindigkeitsbegrenzungen für Fußgänger gibt? Keine Ahnung. Das Wasser steht zumindest schon auf der Straße und spritzt bei jedem meiner raumgreifenden Schritte kniehoch. Notiz an mich: beim nächsten Mal Wechselklamotten mitnehmen.

Am Parkplatz kommen wir drei wieder zusammen. Die Sachen in den SUV gepackt und ab geht´s. Wir fahren auf die Autobahn auf und in Klagenfurt wird die zweite Hälfte gerade angepfiffen. „Bringt irgendein Sender eventuell eine Live-Reportage vom Spiel?“ wird in den vollgepackten Innenraum gefragt. „Der HR ist bei so Sachen immer mit von der Partie“, antworte ich. Der Sender ist schnell gefunden. Die Uhr zeigt 19:21 an, während das 0:2 für die Kroaten fällt. Die vordere Reihe jubelt – klarer Fall von Missverständnis. Spätestens der Satzteil „… die kroatische Bank jubelt …“ löst alles auf. Ich reagiere nicht, sondern lese weiterhin in meinem Magazin. Die Namen Rakitic und Olic haben mich schon vorher aufhorchen lassen.

Wir sind noch nicht richtig in ihrer Wohnung angekommen, da ist der Fernseher auch schon eingeschaltet. Quasi mit dem Anschlusstreffer durch Podolski waren wir wieder da. Die restlichen zehn Minuten schenke ich mir und hole in der Zeit das ein oder andere Teil aus dem Wagen. Das war in dem Moment einfach wichtiger. Liebe ist, wenn …

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