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Freitag, 12. Februar 2010

Wohltätigkeit ist nur eine Illusion

Wohltätigkeit ist nur eine Illusion. Ein Gedankenspiel, das uns in Zeiten vermeintlicher sozialer Kälte einen warmen Mantel der Güte vorgaukelt, wenn wir ein paar Cent Wechselgeld aus unserer Jackentasche in den Pappbecher eines Bettlers bugsieren. Und egal welch ausgeprägter Gutmensch man ist, man fühlt sich nach einer kleinen Gabe hinterher nur schlecht. Schlecht, weil man, man ist noch keine zehn Schritt weiter, weiß, dass man durchaus hätte mehr geben können, wenn man gewollt hätte. Es ist eine Spirale, die, obgleich man sich mit dem Geben einer kleinen Almose besser fühlen sollte, nicht nach oben, sondern nach unten führt, obwohl man geholfen hat. Aber man will nicht immer nach unten geführt werden. Ich weiß das. Erst heute Abend ist mir nämlich genau das wiederfahren.

Es gibt hier in der Gegend ein Projekt, das ehemaligen Drogensüchtigen die Möglichkeit bietet sich über den Verkauf von Zeitungsabos einen Teil der Resozialisierungsprogramme finanzieren zu können. Ich kenne die Jungs und Mädels, da sie regelmäßig bei mir vor der Tür stehen, vorstellig werden und mir ihre Geschichte erzählen. Es klingt zwar oftmals wie das typische "ich war jung, hatte Probleme und habe einen Fehler gemacht"-Klischee, aber das ist das Problem. Die meisten Klischees sind wahr, wenn man sie oft genug sieht, hört, erlebt.

Und dann stehen wir da. Ich, Mitte zwanzig, Student, mit Problemen, die im Vergleich zur Not dieser Welt nur für einen verschwindend geringen Prozentsatz auch nur annähernd nachzuvollziehen sind.
Auf der anderen Seite der Tür Ex-Junkies, Mitte zwanzig, arbeitslos, bei einer Rückfallquote von über 90 Prozent so gut wie ohne jede Perspektive auf ein geregeltes Leben, Einkommen, einen Job oder ein soziales Umfeld, welches einem vorbehaltslos den Rücken stärkt. Es sind Probleme, wie sie ein im Vergleich erschreckend hoher Prozentsatz dieser Welt in Not nur zu gut kennt.

Wir unterhalten uns immer sehr angeregt. Ohne Misstrauen. Wenn diese Gleichaltrigen von Tür zu Tür ziehen, um ihre Abonnements zu verkaufen, dann wissen sie, dass sie Scheiße gebaut haben. Meistens zumindest. Wenn wir diese Gespräche jedoch anfangen, dann wissen beide Seiten auch worauf es hinauslaufen wird: der Verkauf.

Und dann stehen wir da. Vor nicht einmal fünf Stunden war das. Er und ich. Er ist tatsächlich sehr sympathisch, aber ich weiß, wo dieses Gespräch endet. Und ich will nichts kaufen. Es ist bereits das vierte Mal, dass diese so-gut-wie-Zukunftslosen vor meiner Tür stehen und das Muster, mit dem sie zum Abschluss kommen wollen, kenne ich bereits sehr gut. Leider.
Die einen verstanden sich besser darauf, die anderen weniger. Ins Gespräch kommen. Unverfängliche Fragen stellen und Antworten geben, die einem zehn, fünfzehn Minuten später vorgaukeln, dass man sich ja nun kenne, einander vertrauen und gegenseitig etwas Gutes könne. In Wahrheit steht mir nach wie vor ein absolut Fremder gegenüber. Ein Fremder, dem ich nichts Böses wünsche, aber verbindlich helfen will ich ihm an diesem Abend auch nicht.

Ich habe schon genug Fremden geholfen und helfe immer noch, denke ich im Stillen bei mir. Die monatlichen Spenden an die Charityorganisation im ersten Studienjahr, als ich es mir problemlos leisten konnte. Die unzähligen Münzen, die ich den Spielmännern, Musikanten und Bettlern überlasse. Das ein oder andere belegte Brötchen, das einem Stadtstreicher für ein paar Stunden den leeren Magen füllte...

"20 Cent pro Tag" reisst er mich aus meinen Überlegungen heraus und in das Gespräch zurück. 20 Cent pro Tag wären die Hilfe gewesen, die dieser junge Kerl im Grunde von mir erbittet, die ich ihm aber nicht gewähren mochte. Natürlich würde ich das Geld im Kleinen nicht vermissen. Was sind schon 20 Cent? Ein Brötchen beim Bäcker. Zwei Tütchen Mayo in der Mensa am Campus. Vier Colafläschen aus diesen riesigen Süßigkeitentrommeln, wie sie beim Kiosk an der Ecke früher standen... Und doch gewähre ich sie ihm nicht. Warum? Weil ich seine Geschichte kenne.

All die in meiner Erinnerung gesichtlosen vom Pech Verfolgten, denen ich mein Wechselgeld aus meiner Jackentasche zukommen ließ, sind eben das. Vom Pech Verfolgte. Gesichtslos. Austauschbar und damit ohne emotionalen Balast beladen. Ich weiß nicht, welches Schicksal sie in diese Lage gebracht hat und möchte es auch nicht wissen. Ich will nicht vorgehalten bekommen, dass ich es besser habe. Dessen bin ich mir auch so bewusst. Ich will nicht daran erinnert werden, dass ich die Welt retten könnte, wenn ich es wirklich wollte. Auch das ist mir bekannt. Aber ich habe aufgehört es zu versuchen. Ich kann nicht die ganze Welt retten. Ich habe es schon oft genug versucht. Mit den Spenden. Mit dem Wechselgeld. Mit den Brötchen. Und danach fühlt man sich doch nur wieder schlecht, weil es mehr hätte sein können. Das will ich nicht mehr.

Als ich die Tür hinter meinem Besuch schließe lasse ich die letzten Sätze unseres Gespräches noch einmal Revue passieren: "Du bist dir sicher, dass du nichts geben kannst?" - "Ja, das bin ich."

Und mit einem Mal wird mir bewusst, dass ich bei diesem Satz gelächelt habe.

1 Kommentar:

  1. Hallo Bruderherz!

    Wie Recht du doch hast. Andererseits: Wenn niemand im Kleinen versucht die Welt zu retten, wie soll es dann im Großen geschehen?

    Du kennst mich, auch ich bin des Leides das man tagtäglich sieht überdrüssig. Auch deswegen überdrüssig, weil es immer jemanden gibt der einem etwas anbietet, damit es denjenigen besser geht.

    Ein belegtes Brötchen zu geben, das hat was. Und es dürfte mehr wert sein, als das in den Pappbecher geworfene Kleingeld. Damit hast du dem Betreffenden nämlich auch etwas wirklich Gutes getan. Geld geben ist für meine Begriffe nicht mehr als ein Almosen, Sachwerte hingegen - finde ich - helfen. Und sei dir sicher: Genauso wie du mit gegebenen Kleinstbeträgen einer dieser gesichtslosen Passanten in der Fußgängerzone wärst; an dein Gesicht, derjenige, der etwas zu Essen gab, wird sich der Betreffende länger erinnern als an viele Andere.

    Ich selbst habe aber auch das Folgende mal am Frankfurter Hauptbahnhof erlebt: Ich hatte Pause, saß in meiner Uniform bei einem Schnellimbiß und aß gerade. Da kam diese junge Frau, mit einem kleinen Kind auf dem Arm und ging von Tisch zu Tisch. Alle gaben Geld, dann kam sie zu mir. Sie bat mich auch um Geld, ihr Kind habe Hunger. Ich bot an, da ich gerade mit Essen fertig war, dem Kind beim Bäcker - keine zwei Meter daneben - etwas zum Essen zu kaufen. Nein, sie wolle Geld. Darauf sagte ich erneut, dass ich ihrem Kind (am Ende war ich mir nicht mal mehr sicher ob es tatsächlich ihr Kind war) lieber etwas zu Essen kaufen wolle. Die anschließende lautstarke Hasstriade mit all den schlimmen Wörtern, die man in Gegenwart von Kindern noch nicht mal denken würde (inklusive dieses Kurzwortes, welches mit der Zeit bis 1945 verbunden wird und das man heute noch oft an den Kopf geschmissen bekommt wenn man als Deutscher nicht sofort mit alles und jedem Mitleid hat und Geld gibt) möchte ich hier nicht wiedergeben. Die zufällig in diesem Moment vorbeikommende Bundespolizei beendete dieses Schauspiel dann, ohne das ich etwas sagen brauchte. Auf die Frage einer Beamtin, ob ich Anzeige erstatten wollte antwortete ich sinngemäß: "Wozu? Aufwand und Nutzen stehen in keinem Verhältnis, und dem Kind geht es davon auch nicht besser."

    Ähnlich wie es dir ging fühlte ich mich im ersten Moment schlecht, haben doch alle anderen Besucher des Schnellimbiß die Aktion mitbekommen und sich wahrscheinlich ihren Teil über den Mann in der Uniform gedacht, zumal ich ja auch einfach fünfzig Cent oder einen Euro hätte geben können, dann wäre das Alles nie passiert. Auf der anderen Seite denke ich mir: Wer materielle Hilfe ablehnt, der braucht auch keine finanzielle Hilfe. Mag hart klingen, dürfte hier aber absolut zutreffen.

    Schätzen wir uns also alle miteinander glücklich, das wir und unsere Lieben gesund sind, einer geregelten Tätigkeit nachgehen können, jeden Tag etwas zu Essen und Trinken haben und nachts ein festes Dach über dem Bett haben in das wir uns legen.

    Man sollte auch über die kleinen Glücksmomente dankbar sein und sich vergewissern, dass es einem selbst manchmal sehr schnell sehr schlecht gehen kann. Das Gewissen dahingehend allerdings mit Geld zu beruhigen ist der falsche Weg.

    In diesem Sinne

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