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Montag, 31. August 2009

"Hallo"

Es gibt Tage, an denen fragt man sich, was die Menschen von damals, mit denen man vor was weiß ich wie vielen Jahren immer zusammenhing, heute so machen. Bei manchen interessiert es dich mehr, ja sogar brennend, bei anderen kommt dir dieser Gedanke erst dann in den Sinn, wenn sie urplötzlich vor dir stehen. So wie es mir heute passiert ist.

Im Zug nach Hause steht, noch ehe ich mich meine Lektüre richtig zu studieren begonnen habe, plötzlich jemand vor mir und sagt ganz unverbunden "Hallo". Mehr nicht. Einfach nur "Hallo". Und während ich dabei bin mich mit diesem Störenfried auseinanderzusetzen, schauen mich über den Rand meiner Zeitung hinweg zwei große, erwartungsvolle Augen an.

Das ist der Punkt, an dem ich eine meiner größten Schwächen offen legen muss: Ich habe ein miserables Gedächtnis, was Gesichter angeht. Namen sind kein Problem. Aus dem Stehgreif könnte ich meine komplette Fachabiklasse inklusive Sitzordnung runterrattern oder wahlweise auch die Champions League-Siegertruppe des FC Bayern aus dem Jahr 2001. Wie gesagt, kein Problem. Aber Gesichter sind mir in der Beziehung ein Graus. Diese unangenehme Situation, wenn man in der Stadt jemandem begegnet und im Vorbeigehen ein schnelles "Hi! – Bye!" austauscht, folgen bei mir grundsätzlich zwei bis drei Minuten angestrengten Grübelns, wer zum Teufel das nun schon wieder war, sofern es sich nicht um langjährige Weggefährten oder eben Leute meines engeren Bekanntenkreises handelt.

Nun denn, die erwartungsvollen Augen sind immer noch da und in meinem Kopf fängt es an zu rotieren. Name? Liegt mir auf der Zunge. Gesicht? Kommt mir bekannt vor. Nur woher? Klack. Das woher ist gefunden. Konfirmation 1998. Es schrillen die Alarmglocken. Elf Jahre! Wie um alles in der Welt erkennt mich jemand nach elf Jahren in einem völlig überfüllten Zug 50 Kilometer von unserer Heimat entfernt zu genau dem Zeitpunkt, an dem ich es am wenigsten erwarte? Okay, für gewöhnlich rechnet mit Ausnahme von A-bis-D-Promis niemand damit auf offener Straße irgendwo erkannt zu werden. Sowas passiert einfach.

Die erste Klippe ist umschifft, als ich auf sein "Hallo" ein "Ach… Hi! Du hier? Na so eine Überraschung" folgen lasse. Ja, platt, ich weiß, aber es hilft in 99 Prozent der Fälle erst einmal weiter. Den Moment zu überstehen, an dem es zu spät ist und man zu tief im Gespräch hängt, um noch nach dem Namen zu fragen, ist eine ganz andere Geschichte. Wenigstens habe ich die Verbindung zwischen meinem Gegenüber und mir finden können.

Dumm nur, dass dieser Jemand eine dieser Personen ist, an die ich seit 1998 nicht mehr gedacht habe. Warum auch? Es gab schließlich keinen nennenswerten Anlass, da wir uns nicht einmal in unserem beschaulichen und doch recht übersichtlichen Städtchen über den Weg gelaufen sind.

Und so kommt es, wie es kommen muss. Die üblichen Floskeln von "Wie geht’s dir? Lange nicht mehr gesehen" (Gut. Ja, stimmt. – Schön. Mir auch. Wow, elf Jahre...) über "Was machst du so?" (Ich studiere. – Ich auch.) bis "Hast du noch einmal was von den anderen von damals gehört?" (beiderseitiges Verneinen) sind nach drei Minuten aufgebraucht und es liegen noch weitere 23 Minuten Zugfahrt bis zu unserer gemeinsamen Destination vor uns.

Die verlegene Stille zwischen uns wird nur durch das Rattern der Waggons und dem Geplapper der Menschen um uns herum übertönt. Das ist einer dieser Momente, in denen man sich rosafarbene, fliegende Elefanten, Spider-Schwein oder einen plötzlichen Wutausbruch des Typen, der die ganze Zeit de Tasche seines Hintermannes in die Kniekehlen gerammt bekommt, wünscht, um aus dieser Bredouille wieder herauszukommen und ein neues Thema zu haben. Leider kommt kein Elefant vorbeigeflogen, Spider-Schwein bleibt eine Cartoonfigur und der Tasche-in-Kniekehle-Typ benimmt sich ruhig und gelassen wie Buddha persönlich.

Wer nun aber meint, dass man sich nach elf Jahren doch bestimmt so einiges zu erzählen hätte, der irrt. Er hat sich mit seiner introvertierten, ruhigen Art genau so (weiter-)entwickelt, wie ich es schon mit zwölf Jahren vermutet habe – aus irgendwas mit Computern wurde ein holpriges Informatikstudium –, und ich wiederum sehe mich nicht in der Lage und Position vor einem derartigen Publikum über meine aktuellen Projekte und Pläne zu referieren, weshalb ich mich nicht gerade Gesprächs fördernd sehr allgemein halten muss. Es ist ein qualvoller Tod, den unsere so nie wirklich zu Stande gekommene Konversation stirbt. In der Wüste zu verdursten dürfte amüsanter sein, als das.

Die (späte) Erlösung kommt dreizehn Minuten vor unserer Station, als ein Kommilitone von ihm zusteigt. Am Heimatbahnhof angekommen folgt ein kurzes Händeschütteln und unsere Wege trennen sich wieder.

Bis in elf Jahren, oder so.

3 Kommentare:

  1. Bekannte Situation; bleibt dennoch nur zu hoffen, dass er deinen Blog nicht zu lesen bekommt! :-)

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  2. schrecklichschoenesleben1. September 2009 um 13:46

    Bin ja froh, dass es nicht nur mir so geht. Habe schon so oft Menschen getroffen, bei denen mir nicht einfiel, woher die mich kennen könnten. Von gegenseitigem Kennen kann man ja in so einem Fall wahrlich nicht sprechen.

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  3. Buah, gruslig - ich kenne das. Letztens ist mir ein Polizist über den Weg gelaufen, der sagte "hey, wir waren Schulkameraden" und irgendwann auch mal ein Grundschul-Kumpel, den ich nach dem Namen fragen musste, der aber komischerweise genau wusste, wer ICH bin.

    Warum haben alle anderen so ein grandioses Gedächtnis außer Dir und mir..?

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